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3. August 2022

Die Verzerrung der Welt oder warum Weltkarten politisch sind

Europa oben schön in der Mitte, die USA im Westen, Russland und China im Osten, Afrika tief unten im Süden. Wir haben uns an einen ganz bestimmten Blick auf die Weltkarte gewöhnt. Warum das teilweise schlicht falsch ist und warum auch dir eine andere Perspektive auf Weltkarten gut tun würde.

Als Primarschüler hatte ich eine Weltkarte als Schreibtischunterlage. Wenn mir langweilig war, wenn ich mich nicht auf die Hausaufgaben konzentrieren konnte, dann fuhr ich mit dem Finger über die Weltkarte und malte mir aus, all die fernen Länder und Städte irgendwann in meinem Leben zu besuchen. Und ganz nebenbei, ohne dass ich das als Dreikäsehoch selbst bemerkt hätte, wurde mir ein ganz spezifisch politisches Bild von unserer Welt vermittelt.
Die Weltkarte auf meinem Pult sah ungefähr so aus:

Denkt ihr an Weltkarten, so stellt ihr euch die wahrscheinlich auch so vor. Europa oben schön in der Mitte, darunter Afrika, links über dem weiten Atlantik Nordamerika, rechts Asien. Und dann ist da noch Grönland, ein riesiges, quasi unbewohntes Land, das sich zwischen Europa und Nordamerika schiebt.

Das Problem daran: Diese Weltkarte stimmt nicht, sondern ist in vielerlei Hinsicht grob verzerrt. Denn alle Weltkarten, die die Welt zweidimensional als Rechteck abbilden wollen, sind vor das Problem gestellt, dass sie die Erde, die annähernd eine Kugel ist, als Fläche darstellen müssen. Stellt euch vor, ihr schält eine Orange: Selbst wenn es euch gelingen würde, die Orangenschale in einem Stück abzubekommen, müsstet ihr sie anschliessend flach drücken, damit sie gerade auf dem Tisch zu liegen kommt. Dabei müsstet ihr in Kauf nehmen, dass die Orangenschale sich dehnt, verzerrt, an gewissen Punkten einreisst.

Genauso ist es mit Weltkarten. Sie können nie eine exakte Abbildung der Welt leisten. Stattdessen verzerren sie die Welt. Je nach Karte stellen sie dabei entweder Distanzen, Winkel oder Flächen oder eine Kombination aus allen drei ungenau dar. Die Weltkarte, die wir alle kennen, die sogenannte Mercator-Projektion, entscheidet sich dazu, die Winkel korrekt abzubilden. Dafür stimmen im grossen Massstab die Distanzen nicht mehr — und die Flächen sind extrem verzerrt wie folgendes Bild verdeutlicht:

Mehrere Sachen springen daran ins Auge. Die Länder auf der nördlichen Halbkugel sind tendenziell grösser dargestellt, als sie eigentlich sind. Die Länder auf der südlichen Halbkugel hingegen, vor allem der afrikanische Kontinent, sind dagegen annähernd genau in ihrer Grösse repräsentiert. Das führt dazu, dass zum Beispiel Grönland auf der Mercator-Projektion ungefähr gleich gross wirkt wie Afrika. Dabei ist Afrika rund 14 Mal grösser als Grönland. Die Web-Plattform «The true size of» rückt die Grössenverhältnisse in Relationen, indem sie zeigt, wie gross einzelne Landflächen erscheinen würden, wenn man sie auf der Karte anderswo positionieren würde. Im Fall von Grönland sähe das dann so aus:

Anderes Beispiel: Nimmt man die auf der Karte alle riesig dargestellten Länder USA, Indien und China zusammen und legt sie wiederum auf die Fläche Afrika, stellt man erstaunliches fest. Die drei Länder zusammengenommen sind in etwa gleich gross wie der afrikanische Kontinent — obwohl alleine China in der Mercator-Projektion den Eindruck erweckt, annähernd an die Grösse Afrikas heranzukommen.

Das Prinzip funktioniert auch in die andere Richtung. Nimmt man die Demokratische Republik Kongo, das zweitgrösste Land Afrikas, und legt es auf den europäischen Kontinent, erscheint das Land plötzlich riesig und bedeckt grosse Teile Kontinentaleuropas.

Zum Vergleich: Die Demokratische Republik Kongo ist alleine sechseinhalb mal so gross wie Deutschland.

Die Weltkarte, wie wir sie kennen, macht also nördlich gelegene (und damit tendenziell westliche) Bereiche der Welt grösser als sie eigentlich sind. Zudem rückt sie Europa in die Mitte der Weltkarte und positioniert es auf der Karte oben. Man könnte davon sprechen, dass Europa und der Westen über dem Rest der Welt thront. Andere Weltreligionen werden demgegenüber klein gemacht und in der Hierarchie unten angestellt. In anderen Worten: Die Weltkarte, wie wir sie alle kennen, bekräftigt bereits bestehende Ungleichheiten und verfestigt sie.

Das müsste nicht sein. Es gibt keinen einleuchtenden Grund, warum für Weltkarten die Mercator-Projektion verwendet werden sollte. Erstens ist sie uralt: Sie wurde 1569 vom deutschen Kartographen Gerhard Mercator erstmals vorgeschlagen. Zweitens hatte Mercator damit nie im Sinn, eine Weltkarte zu schaffen, die die Landflächen exakt darstellt. Tatsächlich sah er selbst die Qualität seiner Karte in der Winkeltreue. Aufgrund dieser konnten Schiffskurse erstmals als gerade und exakte Strecken auf der Karte eingetragen werden – das machte sie für Seefahrer:innen äusserst attraktiv.

In der Vergangenheit wurden immer wieder Alternativen zur Mercator-Projektion vorgeschlagen. Ich möchte nur ein Beispiel herauspicken. Bereits 1885 entwickelte der Schotte James Gall eine Weltkarte, auf der die Grössenverhältnisse der Flächen stimmen. Sie wurde in den 1970er-Jahren vom Deutschen Arno Peters wieder ins Spiel gebracht, der sie als eigene Erfindung ausgab.

Die Gall-Peters-Projektion wurde eine Weile lang von verschiedenen Hilfsorganisationen verwendet, darunter Oxfam oder auch die UNO. Durchgesetzt hat sie sich trotzdem nicht. Viele bemängeln an ihr, dass sie zwar die Flächen korrekt darstellt, dafür in anderen Bereichen sehr ungenau ist: So stellt sie zum Beispiel die Formen der einzelnen Landflächen teils sehr verzerrt dar.

Selbst wenn man an der traditionellen Weltkarte nach Mercator festhalten will, könnte man die eigene Perspektive hin und wieder mal herausfordern. Man kann die Weltkarte nämlich einfach einmal um die horizontale Achse spiegeln. Das Resultat sähe dann so aus:

Sieht das in deinen Augen gewöhnungsbedürftig oder sogar falsch aus? Ein untrügliches Zeichen dafür, dass du dich an einen ganz bestimmten Blick auf unsere Weltkarten und damit auf unsere Welt gewöhnt hast. Das ist der Grund, weshalb Weltkarten politisch sind.

Erstellt von Reto Heimann