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2. März 2022

Die Rehabilitation der Atomkraft

Tagtäglich steckst du dein Ladekabel in die Steckdose und siehst, wie die Batterieleiste deines Handys Balken um Balken voller wird. Doch hast du dir schon einmal Gedanken gemacht, woher der Strom eigentlich kommt, der dein Smartphone am Leben hält? Warum nun die in Ungnade gefallene Nuklearenergie in Europa plötzlich wieder zur Debatte steht, erfährst du in diesem Blogbeitrag.

Nach der Nuklearkatastrophe in Fukushima vom 11. März 2011, als die Freisetzung von radioaktivem Material einen Umkreis von  zwanzig Kilometern unbewohnbar machte, entflammte global eine erneute Debatte um die Gefahren der Kernenergie. Dabei ging es vor allem um die Langlebigkeit der radioaktiven Strahlung sowie die massiven strahlenbedingten Schäden für Natur, Tier und Mensch. Viele Länder beschlossen, aus der Atomkraft auszusteigen – so auch die Schweiz. Im Mai 2017 entschied die Schweizer Stimmbevölkerung im Rahmen des neuen Energiegesetzes mit 58.2% Ja-Stimmenanteil schrittweise aus der Atomenergie auszusteigen und keine neuen AKW mehr zu bewilligen. Warum also hat sich in Europa diese Meinung jüngst wieder geändert? Und wie steht die Schweiz heute, fast fünf Jahre nach der Energiegesetz-Abstimmung, zu Atomkraft?

Welche Energiequellen gibt es überhaupt?

Falls du dich fragst, welche Energiequellen es überhaupt gibt und welche Vor- und Nachteile diese mit sich bringen, dann haben wir dir untenstehend zu den wichtigsten Energiearten ein paar Fakten zusammengetragen. Je nachdem, welche Kriterien für dich am relevantesten sind, wirst du auch die eine oder andere Energie geeigneter finden. 

2020 kam ca. 60 Prozent des Schweizer Stroms von den etwa 640 heimischen Wasserkraftwerken, einer erneuerbaren Energiequelle. Weil die Schweiz aber sehr strikte Landschafts- und Gewässerschutzbestimmungen hat, kann die hiesige Wasserkraft derzeit häufig nur schwer weiter ausgebaut werden.

Eine weitere erneuerbare Energie ist Windkraft. Die Schweiz hat 41 Grosswindenergieanlagen (Stand Ende 2020) und stellt ca. ein Prozent des Schweizer Stroms her, das Potential dieser Energiequelle ist allerdings noch beträchtlich. Doch der weitere Ausbau gestaltet sich schwierig, weil die lokale Bevölkerung oft keinen Windpark in ihrer unmittelbaren Wohngegend haben will.

Das grösste Potential hat die Schweiz bei der Photovoltaik, der Sonnenenergie. Die Politik unterstützt daher z.B. auch die Installation von Solarpanels auf dem eigenen Hausdach finanziell. Sie macht aktuell etwa fünf Prozent der hiesigen Stromproduktion aus. Bei Solaranlagen wird oft die energieintensive Herstellung der Panels kritisiert, doch zeigt sich, dass ein Panel während zwanzig Jahren Laufzeit zehnmal mehr Energie gewinnt, als seine Produktion benötigt hat.

Fossile Energien wie Erdöl, Erdgas und Kohle gelten als Klimasünder schlechthin. Ihre Verbrennung setzt unter anderem sogenannte Treibhausgase frei, welche den Klimawandel beschleunigen und für schlechte Luftqualität sorgen. Ausserdem sind ihre Reserven begrenzt, in 50-100 Jahren muss die Welt voraussichtlich ohne sie auskommen. Sie sind daher nicht erneuerbar. Während fossile Energien bei der Elektrizitätsgewinnung in der Schweiz eine minimale Rolle spielen (ca. zwei Prozent des produzierten Stroms), fällt insgesamt die Hälfte des Schweizer Energiekonsums durch Erdölbrenn- und Treibstoffe an. Das vor allem wegen dem Transport und der Gebäudeheizung.

In der Schweiz gibt es aktuell noch vier aktive AKW (Beznau I und II, Gösgen und Leibstadt), die etwa einen Drittel des hiesigen Stroms produzieren. Kernenergie hat den grossen Vorteil, dass mit ihr sowohl im Sommer als auch im Winter zuverlässig eine grosse Menge Strom produziert werden kann – eine Eigenschaft, die bei erneuerbaren Energien oft nicht gegeben ist. Ausserdem ist diese Form der Stromproduktion vergleichsweise günstig und neueste AKW-Generationen sind auch ziemlich sicher. Ein weiterer Pluspunkt ist die Klimaneutralität: AKW stossen nämlich fast kein CO2 aus, der «Rauch» aus den Türmen besteht nur aus Wasserdampf. Von “grüner Energie” darf wohl dennoch nicht gesprochen werden. Betrachtet man den ganzen Lebenszyklus eines AKW, so stösst es pro kWh erzeugter Energie 3.5 mal mehr CO2 aus als Solarenergie und sogar 29 mal mehr als Wasserkraft. Doch die Atomenergie hat nebst der Gefahr einer nuklearen Katastrophe wie in Tschernobyl oder Fukushima auch nach wie vor mit der ungeklärten Frage der langfristigen Entsorgung bzw. Endlagerung des radioaktiven Abfalls der Brennstäbe zu kämpfen. Die Endlagerung der verwendeten Brennstäbe ist problematisch, weil diese noch Jahrtausende lang Radioaktivität ausstrahlen, wenn sie unsachgemäss gelagert werden. Die Schweiz möchte für den radioaktiven Abfall ein geologisches Tiefenlager bauen, das viele hundert Meter im Boden zwischen stabilen Gesteinsschichten eingebettet werden soll. Doch weil sich die Suche nach einem geeigneten Standort schwierig gestaltet, wird der heutige Atommüll in Zwischenlagern wie z.B. jenem in Würenlingen (AG) deponiert.

Ganz generell sind erneuerbare Energien (verglichen mit fossilen, nicht-erneuerbaren Energiequellen) in einem kurzen zeitlichen Abstand regenerativ, folglich unerschöpflich und damit nachhaltig. Zu diesen Energien gehört z.B. die Wasser-, Wind- und Solarkraft sowie Biomasse und Geothermie. Abgesehen von der Produktion und Installation der jeweiligen Infrastruktur stossen erneuerbare Energien keine klimaschädlichen Emissionen aus (Ausnahme Biomasse), weshalb sie einen zentralen Pfeiler der weltweiten Energietransition darstellen sollten. Atomenergie ist hingegen keine erneuerbare Energiequelle, weil das Material für die Brennstäbe (z.B. Uran) grundsätzlich endlich ist.

Warum die AKW-Debatte in Europa wieder aktuell ist

Weltweit stehen 436 Atomreaktoren in 33 Ländern im Einsatz, die global gesehen zehn Prozent des Stroms produzieren. China, USA, Russland, Indien, Osteuropa – sie alle setzen vermehrt auf Kernenergie, da diese praktisch keine klimaschädlichen Emissionen ausstösst und günstig ist. Und auch in der Europäischen Union (EU) nehmen die gut 100 AKW, die etwa 25 Prozent der dortigen Energie liefern, immer noch einen hohen Stellenwert ein.

Wie viele andere Länder hat auch der EU-Staatenbund 2015 das Pariser Klimaabkommen unterzeichnet und verpflichtete sich dadurch, bis 2050 klimaneutral zu werden. Doch viele Länder haben bisher Mühe, die EU-Klimaschutzgesetze zeitgerecht umzusetzen. Während der Bedarf an Energie kontinuierlich steigt, sind die erneuerbaren Energien noch nicht in der Lage, diesen zu decken. Kernenergie könnte dabei die Versorgungssicherheit vorübergehend decken und so als «Brückentechnologie» dienen. Allerdings wurde Atomenergie von der EU bisher nicht als erneuerbare Energie eingestuft. Das soll sich nun ändern. Nach einem Jahrzehnt der AKW-Skepsis will die EU-Kommission ihre Position anpassen, Kernenergie als «grün» einstufen und sie im Kampf gegen den Klimawandel somit wieder zum relevanten Instrument machen. «Es ist nicht perfekt, aber eine Lösung für die EU, bis 2050 klimaneutral zu werden. AKW sind zwar nicht grundsätzlich grün, aber sie ermöglichen den Übergang zu erneuerbaren Energien», bekräftigte EU-Kommissarin Mairead McGuinness.

Doch nicht alle Mitgliedsländer der EU stimmen dieser Meinungsänderung zu. Vor allem Deutschland, das Ende 2022 das letzte AKW ausschaltet, und einige weitere Länder wehren sich vehement gegen diesen Schritt und bezeichnen es als «Greenwashing» einer risikoreichen Technologie. Frankreich, das Land mit 50 Prozent aller EU-AKW, und diverse Staaten Osteuropas sprechen sich hingegen dafür aus. Sollten sich in einem nächsten Schritt nicht 65 Prozent der EU-Mitgliedsstaaten gegen die Neuerung wehren, was unwahrscheinlich ist, gilt Atomenergie in der EU fortan als grün.

Schweizer Stimmen zur AKW-Debatte

In der Schweiz gibt es aktuell noch vier aktive AKW, die insgesamt etwa einen Drittel des hier produzierten Stroms liefern. Das jüngste von ihnen wird 2022 38 Jahre in Betrieb sein, das älteste 53 Jahre – so lange sie sicher sind, gibt es keine gesetzliche Laufzeitbeschränkung. Jedoch dürfen keine neuen Atomkraftwerke mehr gebaut werden, das hat die Schweizer Stimmbevölkerung mit dem Ja zur Energiestrategie 2050 im Mai 2017 beschlossen.

Doch nicht nur in der EU, sondern auch in der Schweiz hat die Diskussion um die Atomenergie jüngst wieder Fahrt aufgenommen. Im Juli 2021 äusserte beispielsweise SVP-Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher ihre Bedenken einer drohenden Stromlücke in der Schweiz: «Mit der Abschaltung der AKW fehlen in der Schweiz plötzlich 30 Prozent Strom, der sich durch die veränderte EU-Energiepolitik nicht mehr so einfach importieren lässt. Daher muss Frau Sommaruga nun mit den AKW-Betreibern eine Verlängerung der bisherigen Kernkraftwerke ausarbeiten.»

Nebst der SVP hat sich Mitte Januar 2022 nun auch die FDP überraschend dafür ausgesprochen, in der Schweiz unter bestimmten Bedingungen wieder AKW zuzulassen, sofern die Sicherheit jederzeit gewährleistet sei. Konkret sprach sich die FDP dafür aus, die Kernkraft-Technologie nicht präventiv verbieten zu wollen und langfristige Voraussetzungen zu schaffen, um bei Bedarf neue AKW zu bauen. Dies, um eine stabile Stromversorgungssicherheit der Schweiz sicherzustellen. Trotzdem stellt die FDP klar, dass es lediglich um die Aufhebung des Technologieverbots gehe, der Bau neuer AKW sei zur Zeit kein Thema. Ob der Sinneswandel der FDP genügt, um mit der SVP die AKW-Debatte der Schweiz neu zu lancieren, wird sich zeigen.

Ob du nun grünen oder grauen Strom bevorzugst – im besten Fall hast du nach dem Lesen dieses Artikels ein neues Bewusstsein darüber entwickelt, was da alles genau durch dein Ladekabel fliesst und kannst der aktuellen AKW-Debatte besser folgen.

Erstellt von Sophie Ruprecht