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4. April 2023

Warum der Eurovision Song Contest politisch ist

Der Eurovision Song Contest stellt sich offiziell als reine Musikveranstaltung dar und möchte nichts mit Politik zu tun haben. Warum der Blick auf die jüngere wie ältere Geschichte des ESC ein anderes Bild zeigt, erfährst du in diesem Blog.

ESC 1956 – Entstehung des ESC und Regeln des «Unpolitischen»

«Der ESC ist eine unpolitische Veranstaltung» und «Texte, Ansprachen und Gesten politischer Natur sind während des Contests untersagt» – so lauten Auszüge aus den Wettkampfregeln des Eurovision Song Contests. Damit zeigt der ESC, dass er – so wie auch die Olympischen Spiele oder die Fussball-WM – offiziell nichts mit Politik zu tun haben will. Wenn man auf die Entstehungszeit des ESC (damals hiess er noch: Grand Prix Eurovision de la Chanson) blickt, stellt man fest: Die Idee ist in der Nachkriegszeit und in Anspannungen zwischen westlichen und östlichen Staaten Europas während des Kalten Krieges erwachsen. Zweck war, über die Zusammenarbeit der westeuropäischen Rundfunkorganisationen die Völkerverständigung und das europäische Gemeinschaftsgefühl zu stärken. So brachte der erste ESC 1956 schliesslich Länder gemeinsam auf eine Bühne, die elf Jahre zuvor im Zweiten Weltkrieg gegeneinander gekämpft hatten.

Auch im weiteren Verlauf des ESC spiegeln sich immer wieder politische Spannungen in den Beiträgen, Teilnahmen und Nicht-Teilnahmen, «Block-Votings» und ausgelöste gesellschaftliche Debatten wider. Hier ein paar konkrete Beispiele, wie und warum der ESC politisch ist – von jetzt bis in die Geschichte des ESC!

ESC 2023 und 2021 – Russland und Belarus wird die Teilnahme am ESC verboten 

Die Ukraine hat 2022 den ESC gewonnen und wäre damit traditionell Gastgeberin für den ESC 2023 und die 37 teilnehmenden Staaten. Doch aufgrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und damit zusammenhängenden Sicherheitsgründen übernimmt Grossbritannien 2023 die Rolle des Gastgeberlandes. Damit die Ukraine und die Kultur des Landes trotzdem im Wettbewerb präsent sind, arbeitet die BBC (British Broadcasting Corporation), die Rundfunkanstalt des Vereinigten Königreichs, eng mit dem ukrainischen Rundfunk Suspilne zusammen. Russland ist seit Beginn des Krieges von der Teilnahme am ESC ausgeschlossen. Auch Belarus wurde 2021 ausgeladen, da die Teilnahme mit einem Song («Ya nauchu tebya», «Ich bringe dir bei») erfolgen sollte, der der unpolitischen Natur des ESC nicht entsprach. Zugleich sahen Fans des ESC im Song eine Verhöhnung der laufenden Proteste, der Verfolgung von Oppositionellen und der Unterdrückung der Medien- und Meinungsfreiheit. Aber gerade auch mit solchen Ausschlüssen bezieht der ESC politisch Position. 

ESC 1998 und 2014 – Gesellschaftspolitische Bühne für Queerness und Diversity

Auch die gesellschaftspolitischen Themen Queerness und Vielfalt werden auf unterschiedlichen Wegen immer wieder in den Contest eingebracht. So nahm bereits 1998 Dana International mit dem Song Diva für Israel teil, brachte als Transsexuelle das Thema Diversity explizit auf die Bühne des ESC und gewann diesen auch zugleich. 2014, 16 Jahre später, startet Tom Neuwirth als Drag-Queen Conchita Wurst für Österreich beim ESC und geht auch als Siegerin aus dem Wettbewerb hervor. Beiden gemeinsam: Dana Internationals Teilnahme wurde im Vorfeld von einigen Ländern kritisch betrachtet und auch Conchita Wursts Auftritt wurde durch radikale Gruppen aus Russland, Belarus und Aserbaidschan versucht, zu verhindern.

Als Reaktion auf die Teilnahme von Conchita Wurst nahm die Türkei aufgrund der «Unzufriedenheit mit den Regeln» ab 2013 nicht mehr im Contest teil und wird dies nach dem Sieg von Conchita Wurst laut einem Abgeordneten von Präsident Recep Tayyip Erdogans Partei AKP auch nicht mehr tun. Stattdessen veranstaltet die Türkei seitdem den «Turkvision Song Contest». 

ESC 2001 – Estland: «Wir haben uns durch die Musik selbst vom Sowjetreich befreit»

Estland wurde 1991 nach jahrelangen Loslösungsprozessen von der Sowjetunion politisch unabhängig. Und zehn Jahre später, 2001, gewann Estland beim ESC in Kopenhagen unerwartet als eines der «neuen» Länder, die nach dem Ende des Kalten Krieges 1992 dem ESC beigetreten sind, und als erstes Land der ehemaligen Sowjetunion den ESC. «Wir haben uns durch die Musik selbst vom Sowjetreich befreit», reagierte der estnische Premierminister Mart Laar nach dem Sieg. Zugleich befand sich Estland zu dem Zeitpunkt auch bereits politisch mit seinen Beitrittsverhandlungen auf dem Weg in die Europäische Union. «Jetzt werden wir uns nach Europa singen», verkündete Laar weiter. 2004 trat Estland schliesslich der Europäischen Union bei.

ESC 1975 und 1976 – Der türkisch-griechische Konflikt um Zypern überträgt sich auf den ESC

Die Türkei und Griechenland stehen seit der Unabhängigkeit von Zypern (1969) im Konflikt um diese Insel. Dieser Konflikt gipfelte nach Jahren des Streits zwischen griechischen und türkischen Zyprioten in einem Krieg, der 1974 wiederum zur Teilung Zyperns führte. Als Reaktion darauf protestierte Griechenland 1975 durch Nichtteilnahme gegen die Beteiligung der Türkei am ESC. 1976 wiederum blieb die Türkei dem Contest fern, weil Griechenland wieder am Wettbewerb teilnahm. Zudem unterbrach die Türkei während des griechischen Beitrags die Liveübertragung und strahlte stattdessen ein nationalistisches türkisches Lied aus. 

ESC 1969 – Österreichs Boykott als Zeichen gegen die Franco-Diktatur in Spanien 

1969 sollte der Sänger Manuel Serrat Spanien im ESC vertreten – dabei bestand dieser darauf, in seiner Muttersprache Katalanisch zu singen. Zu dem Zeitpunkt wurde die Sprache in Spanien mit Demokratie und Widerstand gegen den faschistischen Diktator Franco und seine Militärdiktatur in Verbindung gebracht. Also wurde Serrat durch einen Sänger, der auf Spanisch performte, ausgetauscht. Gegen dieses Vorgehen bezog Österreich politisch Stellung, indem es die Teilnahme 1969 am Contest in Madrid verweigerte.

Eigentlich schon immer… Musik kann auch politisch sein 

Musik wurde schon immer auch als politisches Medium genutzt, beispielsweise zu Protest- und Propagandazwecken. Denn auch wenn die Europäische Rundfunkunion (EBU) alle Songs auf ihre Inhalte prüft, thematisieren, spiegeln und kommentieren viele Lieder das aktuelle wie vergangene politische Zeitgeschehen. Hier ein paar Beispiele:

Dieses Jahr tritt Remo Forrer mit seinem Antikriegssong «Watergun» für die Schweiz in Liverpool beim ESC an. Remo appelliert darin für Frieden – so singt er im Refrain etwa «I don’t wanna be a soldier / I don’t wanna have to play with real blood» («Ich will kein Soldat sein / Ich will nicht mit echtem Blut spielen müssen»).

Die Sängerin Netta ging 2018 für Israel mit dem Lied «Toy» beim ESC ins Rennen und gewann. Fröhlich-freche Sounds, flotte Beats, Einflüsse aus dem K-Pop und aussergewöhnliche Geräusche charakterisieren den Song und sorgen damit für grosse Beliebtheit. Ein weiterer Grund für die Popularität des Songs ist der Umstand, dass das Lied auf die #MeeToo-Debatte reagierte: Mit den Zeilen „I’m not your toy, you stupid boy“ und „my teddy bear’s running away, the Barbie got something to say, hey“ setzt sich die Sängerin gegen chauvinistische Männer und für starke Frauen ein.

Das Frauentrio 3G sollte 2009 gemeinsam mit dem Sänger Stephane für Georgien beim ESC in Moskau antreten. Gewählt war der Song mit dem Titel «We Don’t Wanna Put In», der mit dem Namen des russischen Präsidenten Wladimir Putin spielte und zugleich gegen den russischen Einmarsch in die abtrünnige georgische Region Südossetien protestierten sollte. Aufgrund wochenlanger Proteste von russischer Seite forderte die EBU Georgien schliesslich auf, einen anderen Song zu wählen oder einen neuen Text für den ESC zu entwerfen. Georgien entschied sich daraufhin gegen einen neuen Text oder neuen Song und für den Rückzug aus dem ESC.

Auch bereits vor 40 Jahren wurde in den Beiträgen beim ESC politisch Position bezogen. So gewann die 17-Jährige Nicole 1982 zur Zeit des Kalten Krieges und zum Höhepunkt der Friedens- und Anti-Atomkraft-Bewegung mit ihrem deutschsprachigen Song «Ein bisschen Frieden» den ESC für Deutschland.

Was ist deine Meinung?

Nimmst du den ESC als politische Schaubühne wahr? Beeinflusst der ESC auch die Politik in der Schweiz? Und sollte sich der ESC offiziell von seiner nicht-politischen Natur verabschieden? Oder diese weiter und vielleicht sogar stärker verfolgen?

Erstellt von Judith Boll