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4. August 2021

Unschuldig unter Dopingverdacht?

Gleich zwei Schweizer Athleten sind von den Olympischen Sommerspielen in Tokio ausgeschlossen, weil sie unter Dopingverdacht stehen. Nun zeigen neue Recherchen der ARD, wie leicht Dopingproben sabotiert werden können. Dies ist besonders brisant, weil im Doping nicht die Unschuldsvermutung gilt. Stattdessen müssen Athlet:innen ihre Unschuld aktiv beweisen. Discuss it fragt: Widerspricht dies nicht einem rechtsstaatlichen Grundsatz?

Gleich zwei Schweizer Sportler unter Dopingverdacht: Sowohl der Hürdenläufer Kariem Hussein als auch der Sprinter Alex Wilson durften an den Olympischen Sommerspielen in Tokio nicht starten. Grund ist bei beiden ein positiver Dopingtest. Im Fall von Hussein soll eine Lutschtablette dafür verantwortlich sein, im Fall von Wilson mit anabolen Steroiden verunreinigtes Rindfleisch. Beide Athleten beteuern, nicht in böser Absicht gehandelt zu haben. Was genau ist passiert?
Kariem Hussein gibt an, die Lutschtablette erst nach dem Wettkampf und vor der Dopingprobe eingenommen zu haben. Dabei habe er nicht daran gedacht, dass die im Bonbon enthaltene Substanz Nikethamid nur im Training erlaubt ist, nicht aber an Wettkämpfen. Es sei eine folgenschwere Unachtsamkeit gewesen, meinte er – und wurde für das vergleichsweise leichte Vergehen mit einer Sperre von neun Monaten bestraft.

Eiskalter Betrüger oder einfach nur ein Pechvogel?

Anders liegt der Fall von Alex Wilson, welcher noch nicht mit einem definitiven Urteil abgeschlossen ist. Hier geht es um eine viel heiklere Substanz als bei Hussein, sagt Ernst König, Direktor von Antidoping Schweiz. Mitte März wurde in einer Dopingprobe von Wilson das Steroid Trenbolon gefunden – gemäss König «eines der potentesten Anabolika, die es gibt». Es fördere Muskelaufbau, Leistung und Erholung. Wilsons Erklärung zum Dopingvorwurf lautet: Er habe in den USA eine grosse Menge Rindfleisch gegessen, welches offenbar mit Hormonen verunreinigt gewesen sei. Diese Erklärung könnte plausibel sein, sagt König. Sollte Wilson allerdings für schuldig befunden werden, droht ihm eine mehrjährige Sperre.

Ob Wilson ein eiskalter Betrüger oder einfach nur ein Pechvogel ist, wird wohl nie eindeutig feststellbar sein. Im Urteil wird es vor allem auf die Einschätzung der Dopingrichter:innen ankommen, ob Wilsons Angaben wahrscheinlich und glaubwürdig sind. So oder so werden vermutlich Zweifel an seiner Integrität bleiben: Athlet:innen, die einmal mit Doping in Verbindung gebracht wurden, werden den Verdacht oftmals ihre ganze Karriere lang nicht mehr los.

Im Doping müssen Athlet:innen aktiv ihre Unschuld beweisen

Wie in Dopingverfahren mit Schuld und Unschuld umgegangen wird, ist von entscheidender Bedeutung. In strafrechtlichen Verfahren gilt zuerst einmal die Unschuldsvermutung. Das bedeutet, dass alle Beschuldigten in einem laufenden Verfahren – bevor ein gültiges Urteil gesprochen ist – als unschuldig angesehen werden. Mit diesem rechtsstaatlichen Grundsatz sollen Angeklagte vor Willkür geschützt und eine Vorverurteilung verhindert werden.

Bei Dopingverfahren aber ist die Beweislast umgekehrt: Nach einem positiven Dopingtest gelten die Athlet:innen grundsätzlich als schuldig – und müssen aktiv ihre Unschuld beweisen, um einer Strafe zu entgehen. Es stellt sich die Frage, ob dieses Prinzip nicht einem rechtsstaatlichen Grundsatz widerspricht und somit ethisch nicht tragbar ist. 

ARD-Recherchen zeigen: Unschuldige können leicht in die Dopingfalle tappen 

Genau diese Frage wird gerade heiss diskutiert. Mitte Juli veröffentlichte die ARD eine Dokumentation mit dem Titel «Geheimsache Doping: Schuldig – wie Sportler ungewollt zu Dopern werden können». Darin schildert die ARD, wie leicht jemand schuldlos in die Dopingfalle tappen kann. Eine kurze Berührung durch einen anderen Menschen reicht, um Sportler:innen eine positive Dopingprobe zu bescheren. Schon wenn die Haut mit nur einem Tropfen Dopingsubstanz in Kontakt kommt, genügt das für einen positiven Test. So könnten unschuldige Sportler:innen ganz einfach sabotiert werden, lautet die Schlussfolgerung. Und weil sie danach selbst ihre Unschuld beweisen müssten, stünden ihre Chancen schlecht, einer Strafe zu entgehen.

Einen solchen Fall gab es 2015 auch in der Schweiz – mit glücklichem Ausgang für den unschuldigen Sportler. Es geht um den Handball-Nationalspieler Simon Getzmann. Nach einer positiven Dopingprobe stand er vor dem Karriere-Aus. Monatelang suchte er nach der Ursache für den positiven Dopingtest. Auf den Hinweis eines Pharmakologen hin liess er die letzte Tablette aus einer Schmerzmittel-Packung analysieren. Und prompt kam heraus: Wegen eines Produktionsfehlers enthielt das Medikament Spuren einer Substanz, die für seine positive Dopingprobe verantwortlich war. Riesiges Glück im Unglück für Getzmann, der so seine Unschuld beweisen konnte. Doch die Frage bleibt offen: Wie viele solcher Fälle gibt es weltweit?

Ein Spagat für die Dopingbehörden

Die ARD-Doku sorgte für einen Aufschrei in der Sportwelt. Viele Stimmen fordern nun von der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA), die heute bestehende Umkehr der Beweislast in Dopingverfahren grundsätzlich zu überdenken. Laut einem deutschen Doping-Experten sind mindestens 80 Prozent der verbotenen Substanzen sabotagetauglich. Wie sollen Dopingproben einen fairen, sauberen Sport gewährleisten, wenn sie so einfach manipuliert werden können?

Nun ist es an der WADA, das aktuelle Vorgehen in den Dopingverfahren zu überprüfen – und gegebenenfalls anzupassen. Denn die ARD-Recherchen werfen ein schlechtes Licht auf die Dopingverfahren. Es darf nicht sein, dass Sportler:innen-Karrieren wegen falsch positiven Dopingtests zerstört werden. Zugleich ist das Doping-Problem eine Tatsache – und es ist auch mit den aktuellen Regeln schon schwierig genug, die Täter:innen zu erwischen. Die Dopingbehörden müssen nun den Spagat schaffen, möglichst viele Schuldige zu überführen, ohne dass Unschuldige verurteilt werden.


Erstellt von Ann-Kathrin Amstutz