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6. Oktober 2021

Die Schweiz als isolierte Insel inmitten der Europäischen Union?

Die Fronten zwischen der Europäischen Union und der Schweiz verhärten sich seit vielen Jahren immer mehr. Mit der Freigabe der Kohäsionsmilliarde versucht die Schweiz nun zu schlichten.

Stell dir vor, eine Freundin von dir, die in Deutschland lebt, ist krank und benötigt dringend eine medizinische Behandlung. In der Schweiz gibt es von den benötigten Medizinprodukten mehr als genug – doch sie dürfen nicht nach Deutschland exportiert werden. Deine Freundin bleibt krank und in der Schweiz bleibt ein Überschuss dieser Produkte, die nicht ins Ausland verkauft werden dürfen. Das ist nicht nur verschwenderisch, sondern auch sehr teuer. Nachdem die Schweiz diesen Frühling die Verhandlungen zum Rahmenabkommen mit der EU beendet hat, ist aber genau das Realität. Um die Wogen mit der EU zu glätten, hat das Schweizer Parlament nun beschlossen, die Kohäsionsmilliarde freizugeben. Was es damit auf sich hat, erfährst du in diesem Blogbeitrag.

Das komplizierte Verhältnis

Die Schweiz und die EU bemühen sich seit vielen Jahren um die Verbesserung ihrer Beziehungen. Doch während sich die EU generell mehr Nähe wünscht, pocht die Schweiz auf die Wahrung ihrer Souveränität. Jüngst hat dies unter anderem zum Abbruch der Verhandlungen des neuen Rahmenabkommens geführt. Im Rahmenabkommen wäre die wirtschaftliche und rechtliche Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU geregelt worden. Doch es gab zu viele Punkte, bei denen die Schweiz keine Zugeständnisse machen wollte. Beispielsweise wünschte die Schweiz nicht, dass sie automatisch neues EU-Recht übernehmen müsste, weil sie dadurch natürlich an Eigenständigkeit verloren hätte. Durch das Abkommen wäre auch der ausgeprägte Lohnschutz Schweizer Arbeitnehmender gefährdet gewesen. Deshalb hat die Schweiz das Abkommen – ganz zur Missbilligung der EU – im Frühling 2021 einseitig abgelehnt.

Versöhnung durch die Kohäsionsmilliarde?

Nach dem Abbruch der langwierigen Verhandlungen des Rahmenabkommens begann eine kleine politische Eiszeit. Diese hofft die Schweiz nun zu beenden und das Verhältnis zur EU zu deblockieren, indem sie über die Freigabe der Kohäsionsmilliarde diskutierte. Die Kohäsionsmilliarde sind sogar 1.3 Milliarden Franken, die die Schweiz an die EU bezahlen soll, da sie wirtschaftlich von der EU profitiert, ohne Mitglied zu sein.

Die Debatte im Schweizer Parlament dazu verlief äusserst hitzig. Die Schweiz könne es sich nicht leisten, sich mit ihrer wichtigsten Handelspartnerin, der EU, zu überwerfen, weshalb die Gelder nun endlich freigegeben werden müssten – so die Pro-Seite. Doch geeint zeigte sich das Schweizer Parlament auch in dieser Frage nicht: Vor allem die SVP kritisierte, dass sich die Schweiz nicht von der EU erpressen lassen dürfe – ein Einlenken signalisiere international Schwäche.

Das institutionelle Abkommen zwischen der Schweiz und der EU hätte die zukünftige gemeinsame Zusammenarbeit regeln sollen, indem es für dynamische Anpassungen der Marktzugangschancen an EU-Rechtsentwicklungen gesorgt hätte. Das Ziel wäre gewesen, Rechts- und Planungssicherheit für Schweizer Unternehmen herzustellen, Schutz vor Diskriminierung zu bieten und den Zugang zum EU-Binnenmarkt auszubauen. Das Abkommen hätte sich auf die fünf bestehenden bilateralen Marktzugangsabkommen (Personenfreizügigkeit, Landverkehr, Luftverkehr, technische Handelshemmnisse, Landwirtschaft) sowie auf zukünftige Abkommen, etwa im Bereich Strom, bezogen. Aufgrund zu vieler Unvereinbarkeiten hat die Schweiz die Vertragsverhandlungen im Frühjahr 2021 aber einseitig beendet.

Bei der Kohäsionsmilliarde handelt es sich um gut 1.3 Milliarden Schweizer Franken, die innerhalb der nächsten Dekade von der Schweiz an die Europäische Union ausgezahlt werden sollen. Wie der Name bereits verrät, haben diese Gelder den Zweck, die Kohäsion, also den Zusammenhalt zwischen alten und neuen EU-Ländern, zu stärken, indem wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten abgebaut werden. Mit den Geldern wird überdies die öffentliche und soziale Sicherheit erhöht, die Umwelt besser geschützt und die Zivilgesellschaft gestärkt.

Diese Kohäsionszahlungen werden von Nicht-EU-Ländern wie der Schweiz oder Norwegen entrichtet, die am EU-Binnenmarkt teilnehmen wollen, ohne in die Union einzutreten. Die Schweiz unterstützt in diesem Rahmen bereits seit 2007 ausgewählte Projekte v.a. in Osteuropa.

Welche Folgen hat die Schweizer «Isolation»?

Vor allem die Tatsache, dass das Rahmenabkommen nicht unterschrieben wurde, hatte für die Schweiz bereits schmerzhafte Konsequenzen. Aufgrund des fehlenden Rahmenabkommens werden nämlich die bestehenden Verträge nun nicht mehr aktualisiert. Das schränkt zum Beispiel die Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und der EU ein. So werden Schweizer Medizinprodukte von der EU nicht mehr anerkannt und können deshalb nicht exportiert werden – obschon sie beispielsweise in Deutschland dringend benötigt würden. Erwähnenswert ist auch, dass nach dem Abbruch des Rahmenvertrags die EU die Schweiz aus dem internationalen Forschungsprogramm «Horizon» ausgeschlossen hat – ein Debakel für (primär junge) Schweizer Forschende. Diese können für ihre Forschung nun keine europäischen Gelder mehr erhalten.

Inmitten all dieser Strafmassnahmen fand schlussendlich nach dem Ständerat aber auch der Nationalrat jüngst, dass die Schweiz der EU diese zweite Kohäsionsmilliarde schuldig sei und gab sie Ende September 2021 frei, was als Versöhnungsversuch der Schweiz gewertet wurde. Doch ob die EU ihre bereits vollzogenen Sanktionen dadurch rückgängig macht, ist aktuell offen – für die EU sind regelmässige Kohäsionszahlungen aber definitiv Voraussetzung dafür, dass die Schweiz am EU-Binnenmarkt teilnehmen darf.

Erstellt von Sophie Ruprecht